Das Leben ist kein Videospiel. In der virtuellen Illusion können fatale Fehlentscheidungen einfach durch neue Leben kompensiert werden. Im analogen Leben geht das nicht so ohne Weiteres. Wer hier sein Leben verliert, hat keines mehr. Es ist auf ewig ausgelöscht, getilgt, vernichtet. Es gibt dann keine Zeit mehr, die Kindeskinder heranwachsen zu sehen, sich des Lebens zu freuen und die Früchte der eigenen Arbeit zu genießen.
Die deutsche Geschichte ist geprägt von Erfahrungen der sinnlosen Vernichtung von Leben. Der dreißigjährige Krieg verheerte ganze Landschaften, der erste Weltkrieg industrialisierte das Sterben, der zweite Weltkrieg und die Naziherrschaft totalisierten das Töten mit perverser Perfektion. Das kollektive Gedächtnis unserer Gesellschaft hat über Jahrzehnte und Jahrhunderte internalisiert, dass der Tod ein Meister aus Deutschland ist. Der Ruf nach dem „Nie wieder!“, der auch am 8. Mai, dem Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung von der Naziherrschaft, wieder zu hören sein wird, hat hier seinen existentiellen Grund. Dem stimmt man doch gerne zu! Was glauben Sie denn?
Mit dem „Nie wieder“ gibt es allerdings bei näherer Betrachtung ein Problem. Wer den Krieg am eigenen Leib erfahren hat, ergänzt das „Nie wieder“ mit dem Wort „Krieg“. Anders hingegen sieht es aus, bei denen aus, die dem Rassenwahn zum Opfer gefallen sind und weil sie Juden waren oder Sinti oder Roma oder homosexuell oder behindert, also nicht dem wahnhaften Herrenmenschenideal der Nazis entsprachen; dann folgt dem „Nie wieder“ das Wort „Vernichtung“.
Wer „Nie wieder“ ruft, muss sagen, was „Nie wieder“ passieren soll. Das gilt gerade in diesen Zeiten wieder: Die Ukraine wird von einem Aggressor vergewaltigt, der offenkundig nicht zu Verhandlungen bereit ist. Bundeskanzler Olaf Scholz, der französische Präsident Emmanuel Macron und viele andere waren schon vor dem Krieg in Moskau, um durch Reden den Krieg zu verhindern. Die zivilisierte Welt versucht durch Sanktionen den Aggressor zu zähmen. Embargos müssten eigentlich auch kommen – aber der eigenen Wohlstand scheint dann doch noch wichtiger zu sein. Wie soll man auch in kalten Wohnzimmern der pazifistischen Illusion frönen?
Wer jetzt meint, mit einem bloßen Appell „Nie wieder Krieg“ den Frieden retten zu können, übersieht, dass Russland doch längst wieder Krieg führt. Und Putin? Der schert sich nicht nur einen Dreck um appellative Illusionen; er befeuert vielmehr die kollektive Kriegsangst mit dem Geraune über den möglichen Einsatz atomarer Waffen (und bringt so den Krieg in die Köpfe und damit näher, als es die Friedensillusion erlaubt). Wer hingegen „Nie wieder Vernichtung“ ruft, muss angesichts der sich real existierenden Vernichtung von Leben in der Ukraine nach Mitteln suchen, den Krieg wieder zu fesseln.
Dass das nicht ohne Konsequenzen bleiben wird, wusste wohl schon Jesus von Nazareth. Im Angesicht der bevorstehenden Vernichtung seines Lebens, ermahnt er die Seinen im Lukasevangelium, sie sollten sich ein Schwert kaufen (Lk 22,36). Als die Jünger ihm begeistert zwei schon vorhandene Schwerter zeigen, weißt er sie dann aber brüsk zurück:
„Genug davon!“ (Lk 22,38).
Der scheinbare Widerspruch löst sich, wenn man differenzierter hinschaut. Jesus preist sonst die Friedfertigen selig. Aber er weiß, dass der Friede beständig bedroht ist. Deshalb dürfen die Friedfertigen durchaus wehrhaft sein. Die Krieg- und Kampfeslust hingegen weist er in die Schranken.
Diese Balance zu finden, ist angesichts der menschenverachtenden Gewalt, die sich in der Ukraine ereignet, die Herausforderung der zivilisierten Gesellschaft. Wer den Frieden angesichts eines Aggressors wie Putin, der offenkundig die Gewalt liebt, sichern will, muss bereit sein, den Krieg wieder zu fesseln. Das wird nicht ohne Ermöglichung wehrhafter Verteidigung gehen. Das „Nie wieder“ verträgt keine Illusionen. Es wird Zeit, sich von ihnen zu verabschieden.
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in der Westdeutschen Zeitung vom 6. Mai 2022.
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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