Sie treten ins Licht und wollen nicht länger im Dunklen bleiben – und das ist gut so. Mein vorletzter Beitrag „Die im Dunkeln sieht man nicht“ in dieser Kolumne hat wohl einen Nerv berührt. Die neu eingerichtete Fußgängerzone am Laurentiusplatz offenbart wie ein Mikroskop die Schwierigkeiten, denen sich Menschen mit einer Gehbehinderung ausgesetzt sehen, wenn die Wege zu lang werden. Menschen, die zur Verkehrsplanung forschen, meldeten sich, Betroffene und auch Mitglieder des Wuppertaler Behindertenrates fanden sich bestätigt. Mittlerweile erschien hier in der WZ in diesen Tagen ein größerer Beitrag zum Thema; auch eine Leserbriefschreiberin, die selbst eine Gehbehinderung hat, ergriff das Wort – und zeigte sich verwundert, über die Reaktion von Vertreterinnen und Vertretern aus Verwaltung und Rat. Die nämlich zeigten nicht unbedingt eine offensives Angehen des Themas, sondern eher eine regressive Reaktion.
Interessant ist freilich der Hinweis des Vorsitzenden des Ausschusses für Verkehr, Sedat Ugurman, dass bei den Sitzungen des Verkehrsausschusses doch immer ein Vertreter des Behindertenbeirates dabei sei. Das ist an sich nicht schlecht. Nur ist die Stadtplanung keine olympische Disziplin, bei der Dabeisein schon alles ist. Was bedeutet es, wenn eine Vertreterin oder ein Vertreter des Behindertenbeirates bei einer Sitzung „dabei“ ist. Wird sie gehört? Ist er bloß anwesend? Hat das Wort Gewicht? Sind sie mittendrin in der Entscheidungsfindung – oder eben doch nur dabei? Was glauben Sie denn?
Wer sich mit den biblischen Heilungserzählungen auseinandersetzt – bemerkenswerterweise vermeiden die Evangelisten selbst im griechischen Urtext das Wort „Wunder“, sondern sprechen von „Zeichen“ oder „kräftigen Taten“ – kann erkennen, dass die das vermeintlich „Wunderbare“ nur die Oberfläche des Handelns Jesu betreffen. Tatsächlich fehlt eine ausführliche Diagnostik anhand derer man die vorliegende Krankheit einordnen könnte. Deutlicher wird das therapeutische Handeln Jesu beschrieben. Der heilt etwa einen Blinden, indem er einen Teig aus Lehm und Speichel herstellt. Was sonst noch an Ingredienzien in diese medizinische Mischung hineinkam, bleibt unerwähnt. Klar ist nur, dass hier kein supranaturalistischer Zauber vorliegt.
Beschäftigt man sich mit den in den Heilungserzählungen der Evangelien erwähnten Umstände, wird Jesu Therapie noch deutlicher. Oft erwähnen die Texte, dass er „Mitleid“ gehabt habe. Das ist allerdings eine vergleichsweise schwache Übersetzung des verwendeten griechischen Begriffs „splangchnízesthai“, der wörtlich übersetzt bedeutet, dass sich jemand in den Eingeweiden treffen lässt. Das Schicksal der Betroffenen trifft Jesus ins Mark! Dann richtet Jesus die Kranken auf. Entweder fasst er sie an oder ruft sie zu sich. Er ist eben nicht herablassend, sondern ermächtigt die Betroffenen, so dass sie auf Augenhöhe sind. Das sind die drei Aspekte der jesuanischen Therapie: Annahme des Schicksals des Gegenübers – Aufrichtung – Ermächtigung. Dazu kommt noch die eine oder andere physische Komponente – eine Berührung, ein Therapeutikum, ein heilsames Wort. Wesentlich aber ist, dass Jesus den betroffenen Menschen selbst in die Mitte stellt und ihn anhört.
Egal ob man sich sozialdemokratisch auf Solidarität und Selbstbestimmung oder römisch-katholisch auf Subsidiarität und Selbsthilfe beruft: das Beispiel Jesu ist auch in der Stadtplanung hilfreich. Der nämlich sagt dem Benachteiligten
„Steh auf und stell dich in die Mitte“ (Mk 3,3)
Dann fragt er:
„Was willst Du, dass ich Dir tue?“ (Lk 18,41 u.a.)
Das wäre doch ein Anfang für die Planung einer allen Menschen gerechten Stadt – die in die Mitte zu stellen, die sonst im Dunkeln sind, und zu hören, was sie brauchen. Mittendrin ist eben nicht bloß dabei.
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in der Westdeutschen Zeitung vom 29. Juli 2022.
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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