Reine und kristallklare Harmonie ist langweilig. Interessant sind – nicht nur in der Musik – eigentlich die Dissonanzen, die Spannungen aufbauen, die sich zur Harmonie hin auflösen, um durch neue Dissonanzen fortzuschreiten. Auch Gesellschaft und Kirche bedürfen solcher Dissonanzen, die zur Lösung drängen. Streit ist ein Wesensmerkmal jeder freien Gesellschaft, der Demokratie sowieso. Die Frage ist eher die nach der Art des Streitens. Eine gute Streitkultur trägt konstruktiv zum Fortschreiten der Gesellschaft bei; eine negative Streitkultur, die nur auf die Niederlage des Gegenübers ausgerichtet ist, bewirkt hingegen Zerstörung. Streiten ist also eine Herausforderung, die gelernt sein will. Was glauben Sie denn?
Tatsächlich wurde nach dem biblischen Mythos des Gartens Eden schon im Paradies gestritten. Als die beiden Menschen vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen und ihre eigene Nackheit erkannt hatten, werden sie vom Schöpfer zur Rede gestellt, woher sie dieses Wissen haben. Ein erster Streit wird vom Zaun gebrochen, als der Mann der Frau die Verantwortung zuweist und die Frau der Schlange. Niemand will es gewesen sein. Zu allem fähig und für nichts verantwortlich sind die beiden wie Pubertierende, die zwar schon kräftig austeilen, das konstruktive Streiten aus Verantwortung aber erst noch lernen müssen. Das nämlich ist ein Merkmal der konfliktiven Destruktion, die das Eigene überbetont und das Gegenüber verzweckt: Es zählt nur, wenn es die eigene Sicht bestätigt; sonst wird mit Vernichtung und Kontaktabbruch gedroht. Die Tatsache, dass genau diese kommunikative Unkultur in den digitalen Medien, immer wieder fröhlich Urständ feiert, zeigt, dass das Streitenlernen wieder auf der Tagesordnung steht. Cancle Culture ist kein Merkmal konstruktiven Streitens.
Nun kann man in diesen Tagen erleben, dass auch in der Kirche wieder einmal die Fetzen fliegen. Tatsächlich wurde immer schon gestritten. Zu den irdischen Lebzeiten Jesu streiten seine Jünger um die Rangfolge, in Korinth wird ein Konflikt um den Umgang mit Geld vom Zaun gebrochen und in Antiochia widersteht Paulus dem Petrus ins Angesicht, weil der sich nicht an Absprachen hält. Streiten an sich ist nicht verwerflich. Auf die Streitkultur kommt es an. Paulus widersteht dem Petrus eben ins Angesicht. Der Streit wird nicht über Dritte, sondern zwischen den Beteiligten ausgetragen – und da durchaus mit harten Bandagen. Das Entscheidende aber ist, dass miteinander gestritten und nicht übereinander geredet wird. Letzteres befriedigt zwar die voyeuristische Lust der Zuschauenden, trägt aber nichts zum Fortschritt in der Sache dabei – außer, dass sich die Fronten verhärten. Wahrscheinlich hat der irdische Jesus geahnt, dass auch die Seinen vor diesen Gefahren nicht gefeit sind. Im Matthäusevangelium (vgl. Mt 18,15-17) mahnt er, dass bei einem Streit die Beteiligten zuerst versuchen sollen, die Angelegenheit unter vier Augen zu regeln. Ist das erfolglos, soll die Sache vor ein oder zwei Zeugen besprochen werden. Erst wenn das nicht gelingt, soll das Angelegenheit öffentlich vor die Gemeinde gebracht werden. Schlussendlich droht dann, wenn auch das nicht zum Ziel führt, die Trennung. Der konstruktive Streit kann also auch zur Nichtlösung führen – bis dahin aber gibt es eine Reihe von Eskalationsstufen, bei der jede darauf angelegt ist, dass alle das Gesicht wahren können.
Wer das Ansehen des Gegners nicht wahrt, verliert schnell selbst das Gesicht. Er mag im Streit vordergründig siegen, setzt aber seine eigene Würde aufs Spiel. Es scheint so, als müssten wir das Streiten in Kirche und Gesellschaft neu lernen. Es lohnt sich. Ein guter Streit führt nach vorne, ermöglicht Entwicklung – und kennt eigentlich keine Verlierer.
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in der Westdeutschen Zeitung vom 19. August 2022.
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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