Dies domini – 2. Adventssonntag, Lesejahr A
Wer angesichts dieser Überschrift schmunzeln muss, ist auf jeden Fall dabei gewesen, als die sogenannten Millenials das Licht der Welt erblickten. Hurz! – ein Wort, mit dem Hape Kerkeling und Achim Hagemann im Jahr 1991 getarnt als polnische Musiker bei einer fiktiven Veranstaltung in der niedersächsischen Gemeinde Stuhr einem kunstbeflissenen Publikum eine avantgardistische Oper vorgaukeln, deren unsinnige Textpassagen mehrfach durch den lauten Ausruf „Hurz!“ unterbrochen werden. Herrlich war es anzuschauen, wie die, die sich intellektuell kunstsinnig wähnen, an dem Unsinn abarbeiten und Sinn suchen, wo keiner ist. Selten wurde Pseudoexpertentum so feinsinnig brutal entlarvt, wie in diesem Sketch der damaligen Comedyserie „Total normal“, der „Hurz!“ ikonisch werden ließ. Wenn Sie damals dabei waren, haben sie es sicher im Ohr:
Der Wolf … das Lamm … auf der grünen Wiese. Das Lamm … schreit … Hurz!
Nun lebt die Komödie von der Brechung der Realität – im Fall des Stuhrenpublikums ist es eine realpräsentische Brechung. Die eigene intellektuelle Verblendung des sich selbst als kunstverständig wähnenden Expertentums, das Antworten auf nichtgestellte Fragen sucht und den schönen Blödsinn in seiner eigenen herzhaften Ästhetik nicht wahrnehmen und -haben will, sondern Deutungen einträgt, wo es nichts mehr zu deuten gibt, ist an Lachhaftigkeit nicht zu überbieten. Was damals schon Abbild einer verwöhnten Bürgerlichkeit zum Lachen reizte, wird in der Gegenwart von jenen Experten in Kirche und Gesellschaft, die sich zu allem und jedem äußern ohne auch nur den Hauch echten Wissens aus Theorie und Praxis, geschweige den Erfahrung zu haben. Ob es der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist, die Corona-Pandemie oder eine der vielen anderen Themen und Herausforderungen der Gegenwart: Im Brustton der Überzeugung präsentieren selbsternannte Philosophen und Expertinnen einfachste Lösungen, bei deren Simplizität man sich nur vor die Stirn schlagen kann … warum ist da keiner der Verantwortlichen drauf gekommen? Wer hingegen in der Lage ist, auch nur ansatzweise unter die Oberfläche, vulgo den aufgeklebten Bart des Tenors Mirosław Lem, alias Hape Kerkeling, zu schauen, wird sofort erkennen, was Henry Louis Mencken 1921 ebenso lapidar wie zutreffend feststellt:
„Erklärungen gibt es und hat es seit ewigen Zeiten gegeben; stets weiß man für jedes menschliche Problem eine Lösung — sauber, einleuchtend, und falsch.“
– übrigens eine Satz, der fäschlicherweise schon mehreren Urhebern späteren Datums zugeschreiben wurde – wahlweise Umberto Eco, Albert Einstein, Bernhard Shaw und jüngst Harald Lesch …
Nicht überliefert, von der Assoziation aber naheliegend ist, ob sich Hape Kerkeling und Achim Hagemann bei der Arbeit am „Hurz!“ über den Propheten Jesaja gestolpert sind. Aus ihm wird am zweiten Adventssonntag im Lesejahr A die erste Lesung verkündet, die doch eine fatale inhaltliche Nähe, freilich mit einer anderen Variante aufwartet, wenn es heißt:
Der Wolf findet Schutz beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Junge leitet sie. Kuh und Bärin nähren sich zusammen, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Jesaja 11,6f
Hier schreit nicht nur kein Lamm aus Angst vor dem Wolf; das Lamm wird zum Schutzgaranten des Wolfes – eine völlige Verkehrung der Wirklichkeit. Hätte Hape Kerkeling alias Mirosław Lem das gesungen, er wäre wohl sofort entlarvt worden. So viel Unsinn ist dann doch zuviel … Merkwürdig, dass niemand derer, die Glauben aufspringen wird. Merkwürdig, dass man das alles so glaubt … Das ist doch alles zu schön, um wahr zu sein!
Das ist es auch, denn am Ende der Lesung findet sich ein eigentlich aufrüttelnder Appell:
An jenem Tag wird es der Spross aus der Wurzel Ísais sein, der dasteht als Feldzeichen für die Völker; die Nationen werden nach ihm fragen und seine Ruhe wird herrlich sein. Jesaja 11,10
Ein Feldzeichen ist eben kein Friedensdenkmal, sondern signalisiert eine Partei, die sich im Kampf befindet. Tatsächlich signalisieren bereits die folgenden Verse, die die Lesung leider auslässt, dass das schöne Bild vom Wolf beim Lamm eben eine Vision ist, die nicht einfach so kommt, sondern eher ein Ziel ist, dem eine harte Auseinandersetzung vorausgeht:
An jenem Tag wird der Herr von Neuem seine Hand erheben, um den übrig gebliebenen Rest seines Volkes zurückzugewinnen, von Assur und Ägypten, von Patros und Kusch, von Elam, Schinar und Hamat und von den Inseln des Meeres. Er wird ein Feldzeichen für die Nationen aufrichten und die Versprengten Israels zusammenbringen; die Zerstreuten Judas wird er von den vier Enden der Erde sammeln. Jesaja 11,11f
Die Feinde sind stark aktiv. Deshalb gilt es, die Versprengten zu sammeln und zu stärken. Was auf uns zukommt, wird nicht ohne Tatkraft zu haben sein; die Zukunft will errungen werden. Dazu aber ist Einheit notwendig – eben auch die Einheit von Wolf und Lamm.
Das Bild ist ergreifend. Der Wolf, das Lamm sonst frisst, sucht nun Schutz beim Lamm. Er bleibt Wolf und das Lamm bleibt Lamm. Es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis die Natur wieder ihren Lauf nehmen wird. Jetzt aber, angesichts der Bedrohung, ist es notwendig, die natürlichen Triebe zu überwinden. Wenn Wolf und Lamm das nicht schaffen, werden beide verlieren … Es werden wieder andere Zeiten kommen, jetzt aber ist Zusammenhalt gefragt.
Prophetische Worte sind in vielen Zeiten immer wieder aktuell. Auch in der Gegenwart wäre es wichtig, sich angesichts der Herausforderungen der Zeit wieder auf die Kraft des Zusammenhaltes zu besinnen. Wolf und Lamm bleiben dabei durchaus ihren Charakteren treu – nur schaffen sie es, sie zur Erreichung des höheren Zieles zurückzuhalten; mehr noch: der Wolf muss angesichts der Herausforderung auf den Schutz des Lammes vertrauen!
Eben dieser Zusammenhalt ist in der Gegenwart wieder gefragt – und erscheint doch unerreichbar weit entfernt. Man muss nur auf die gesellschaftliche Debatte um die Zuwanderung schauen. Es mangelt nicht nur in unserem Land allerorten an Fachkräften. Die Ressource „Personal“ ist längst ausgereizt. Dringend wäre Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte notwendig. Und trotzdem reden manche konservative Politiker von einer Zuwanderung in die Sozialsysteme … eben! möchte man rufen! Genau: Wir brauchen diese Zuwanderung von Menschen, die in die Sozialsysteme einzahlen, weil sonst die Sozialsysteme kollabieren werden. Sonst: Hurz!
Oder in der Kirche: Da wird immer wieder die alte Mär beschworen, man habe keine Vollmacht des Herrn, etwas zu ändern! Und überhaupt, sei die Kirche als solche doch weiblich und die Gottesgebärerin sowieso. Und die hat gottergeben vertraut … hat sie eben nicht! möchte man rufen. Sie hat nachgefragt, wie das alles geschehen kann, schwanger werden ohne Mann. Und dann hat sie sich in ihr Schicksal ergeben – aber eben nicht einfach so. Und überhaupt: Hat der Auferstandene nicht den Auftrag gegeben, zu lösen und zu binden? Haben die Apostel nicht da, wo sie keine Weisung des Herrn hatten, eigene Antworten gefunden? Doch, ihr habt die Vollmacht, zu ändern, ihr wollt nur nicht! Und deshalb findet ihr manchmal merkwürdige, vielleicht sogar lachhafte Antworten, die immer weniger glauben. Immer weniger antworten darauf noch: Amen! Wo ist das Feldzeichen, um das man sich versammeln kann, um Zusammenhalt für die Herausforderungen der Zukunft zu finden? Stattdessen schreit das Lamm: Hurz!
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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