Dies Domini – Zwanzigster Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A
Alles, was Recht ist, ist noch lange nicht gerecht. Nicht nur, dass Recht, zumal, wenn es menschengemacht ist, in sich ungerecht sein kann – etwa, wenn es die Würde des Menschen missachtet oder Menschen aufgrund ihres Sosein entrechtet. Gerade in deutschen Landen ist man sich dieser Gefahr wohl mehr als bewusst, wurden doch zwischen 1933 und 1945 aufgrund ungerechter Gesetze Millionen von Menschen verfolgt und ermordet, weil sie jüdischer Herkunft waren, zu den Sinti oder Roma gehörten, homosexuell waren oder eine körperliche oder geistige Behinderung hatten. In einem Unrechtsregime schämt man sich nicht, mit vermeintlichem Fug und Recht von „lebensunwertem Leben“ zu sprechen. Lange Zeit schien man sich von der Finsternis des Unrechtes befreit zu haben. Mit Stolz verweist man heute auf unveräußerliche Menschenrechte, erhebt die Würde des Menschen zur obersten Norm und achtet Rede- und Meinungsfreiheit. Letztere wiederum gewährt den rechtmäßig geschützten Raum, ungerechte Behauptungen frank und frei von sich zu geben, wie etwa der Vorsitzende der Thüringer AfD, Björn „Bernd“ Höcke, der in einem MDR-Interview vom Moderator unwidersprochen sagen konnte, dass man seiner Meinung nach „Belastungsfaktoren“ vom „Bildungssystem wegnehmen müsse“, worunter er nicht nur weniger Kinder von Migranten meinte, sondern explizit auch behinderte Kinder. Das alles war schon einmal da – und es wurde sogar rechtmäßig, das sogenannte „lebensunwerte Leben“ zu vernichten. Wahrlich: Alles, was Recht ist, ist noch lange nicht gerecht …
Das gilt, wie hier zu sehen ist, nicht nur für das Recht selbst, das in sich ungerecht sein kann. Es gilt auch für ein rechtmäßiges Recht, dessen Grenzen bis zur Ungerechtigkeit ausgedehnt werden können. Letzteres liegt daran, dass selbst ein „gutes“ Recht interpretationsfähig ist. Es ist schon schwierig genug, stringente Gesetzesformulierungen zu finden. Die Zahl der Paragrafen, Unterparagrafen, Absätze und Sätze, die Standards zu formulieren, Ausnahmen regeln und bemüht sind, das Allgemeingültige so zu fassen, dass es die Einzelnen erfasst, zeigt, dass Sisyphus Plackerei angesichts der juristischen Herausforderung der Normfindung eher einem Spaziergang gleichkommt. Noch schwieriger ist es, die einmal errungenen und theoretisch formulierten Gesetzesnormen anzuwenden – sprich: für den konkreten Fall zu interpretieren. Darin sind sich Gesetze und Bibeltexte ähnlich: Sie scheinen eindeutig zu sein, bedürfen aber doch der Interpretation. Es wundert daher nicht, dass die Zahl der Seiten, die sich in Kommentaren zu Gesetzes- oder Bibeltexten finden, die der interpretierten Texte selbst um Längen übertreffen. Recht muss angewendet werden. Deshalb bekommt noch lange nicht jeder, der augenscheinlich Recht hat, sein Recht. Deshalb können eigentlich gute Gesetze im konkreten Fall äußerst ungerecht sein. Und genau diese Differenz zwischen Recht und Gerechtigkeit steckt wohl hinter der göttlichen Mahnung, mit der die 1. Lesung vom zwanzigsten Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres A beginnt:
„So spricht der Herr: Wahrt das Recht und übt Gerechtigkeit, denn bald kommt mein Heil und meine Gerechtigkeit wird sich bald offenbaren!“ (Jes 56,1)
Der hebräische Text differenziert hier in bemerkenswerter Weise. Wo die deutsche Übersetzung „Recht“ schreibt, steht im Hebräischen מִשְׁפָּט (gesprochen: mischpat). Dieser Betriff steht für das, worauf ein Mensch rechtlichen Anspruch hat und das durch gesatztes Recht geregelt ist. Wo im Deutschen „Gerechtigkeit“ steht, spricht der hebräische Text von צְדָקָה (gesprochen: zedakah). Dieser Begriff bezeichnet den praktischen Vollzug des Rechtes. Gerechtigkeit ist eine Wohltat, der wohltätige Vollzug des Rechtes. Genau darauf bezieht sich der „Spruch des Herrn“ bei Jesaja: Das eine ist, das Recht zu wahren, das andere ist, Gerechtigkeit zu üben. Im Idealfall fügt sich das eine zum anderen. Die obigen Überlegungen aber zeigen, dass die Wahrung gesatzten Rechtes nicht immer wohltuende Gerechtigkeit ist.
In der jüngeren Vergangenheit wird gerad ein der Kirche unserer Breitengrade über diese Frage gestritten. Und scheinbar scheinen die Verhältnisse klar. Man könnte viele Aspekte, die sich in kleinen oder großen Skandalen zu Recht oder zu Unrecht ergießen, diskutieren. Als Beispiel soll hier die Frage der Segnung Liebender gelten. Bei der ist doch auf den ersten Blick alles klar: Liebe kann doch keine Sünde sein. Wie kann man da den Segen verweigern.
Was auf den ersten Blick klar ist, erscheint auf den zweiten Blick aber als äußerst diffizil. Das fängt bei der Frage an, wer denn hier wem den Segen spendet. Wenigstens in der römisch-katholischen Tradition ist es bei dem Sakrament der Ehe so, dass sich die Eheleute, die im Idealfall auch Liebende sind, aber es nicht zwingend sein müssen, gegenseitig das Sakrament spenden. Bischof, Priester oder Diakon assistieren hier bloß und besiegeln den Ehebund. Zum Segen aber sollen die Eheleute füreinander sein.
Diese alte Tradition wirft schon die Frage auf, warum bei Segensfeiern für Liebende der offenkundige Drang besteht, die Paare mit einem oft noch klerikal anmutenden Segensgestus „von außen“ oder sogar durch Handauflegung zu segnen, statt die Paare zu ermuntern, sich gegenseitig zu segnen – so wie es in ihrem Leben generell sein sollte: Füreinander zum Segen zu werden. Das wäre wohltuender und gerechter, als es angesichts der kirchenrechtlichen Erörterungen, die es von römischer Seite aus zur Frage der Segnung von gleichgeschlechtlichen oder wiederverheiratet geschiedenen Paaren immer wieder gibt, möglich wäre. Mehr noch: Das gesatzte Recht ermöglicht diese Form geradezu, weil es hierzu schlicht keine Normen enthält. Wer will denn Menschen verbieten, sich gegenseitig zu segnen und füreinander zum Segen zu werden, so wie es im Segen heißt, den Abigajil dem David zu spricht, und zwar noch, bevor Nabal, dem ersten Mann Abigajils, stirbt:
„Wenn sich aber ein Mensch erhebt, um dich zu verfolgen und dir nach dem Leben zu trachten, dann sei das Leben meines Herrn beim HERRN, deinem Gott, eingebunden in den Beutel des Lebens; das Leben deiner Feinde aber möge der Herr mit einer Schleuder fortschleudern.“ (1 Sam 25,29)
David segnet zurück:
„Gepriesen sei der HERR, der Gott Israels, der dich mir heute entgegengeschickt hat. Gepriesen sei deine Klugheit und gepriesen seist du, weil du mich heute daran gehindert hast, Blutschuld auf mich zu laden und mir selbst zu helfen.“ (1 Sam 25,32f)
In diesem Segen wird wechselseitig Gutes zugesagt – und das, obschon die Verbindung noch nicht rechtens sein kann. Erst als Nabal stirbt (vgl. 1 Sam 25,37) kann David Abigajil zur Frau nehmen.
Hier ist kein Segen, der den beiden gegeben wird. Die beiden segnen sich gegenseitig und werden einander zum Segen.
Die Geschichte von Nabal, Abigajil und David zeigt aber noch etwas: Segen geht auch da, wo das Recht noch im Weg steht. Die Legalisierung der Beziehung ist erst nach dem Tod Nabals möglich. Das ist der Unterschied zwischen amtlich besiegeltem Sakrament und gegenseitig zugesagtem Segen. Wie schwierig es hier ist, eine „offizielle“ Segnung vorzunehmen, zeigt sich bei der Frage der Segnung wiederverheiratet Geschiedener. Auch die mögen einander den Segen zu sprechen. Ein Problem aber taucht auf, wenn dieser Segen amtlich bestätigt werden soll. Warum?
Ein Beispiel mag die Diffizilität des Themas verdeutlichen. Eine Ehe, aus der Kinder hervorgegangen sind, zerbricht nach vielen Jahr, weil – in unserem Fall soll es der Mann sein – einer der Partner eine neue Beziehung eingeht. Er lebt ein neues Leben und genießt seine neue Liebe. Allerdings verweigert er der zurückgelassenen Familie den Unterhalt, der langjährig erstritten werden muss. Während der Mann neu heiratet, fühlt sich die zurückgelassene Frau an ihr Treueversprechen gebunden. Sie verbittert. Für sie wäre es ein Segen gewesen, wenn sie eine neue Verbindung eingehen könnte. Für sie wäre es eine Wohltat gewesen, wenn die Kirche und ihr Recht dieser möglichen Verbindung nicht im Weg gestanden hätten. Der Mann hingegen sucht Segen für seine neue Verbindung. Was ist hier gerecht? Kann der Segen, den er seiner neuen Frau zweifellos selbst zusprechen kann, einfach so offiziell legitimiert werden? Wer wollte sich hier über alle Beteiligten zum Richter aufschwingen? Das kirchliche Recht ist klar: Es kann keine offizielle Legitimation für einen Segen wiederverheiratet Geschiedener geben. Das erscheint im Fall des verantwortungslosen Mannes möglicherweise sogar einigermaßen plausibel. Im Fall der zurückgelassenen Ehefrau aber wird das Recht zum Hort des Unrechts, denn Gottes Wort ist klar:
„Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist.“ (Gen 2,18)
Diese kurzen Überlegungen zeigen, dass nicht alles, was Recht ist, gerecht ist. Gerechtigkeit aber ist wohltuend angewendetes Recht. Bisweilen ist es sogar gerecht, geltendes Recht zu brechen – die Moraltheologie kennt nicht umsonst die Tugend der Epikie. Genau die adressiert wohl Papst Franziskus, wenn er feststellt:
„Aufgrund der Bedingtheiten oder mildernder Faktoren ist es möglich, dass man mitten in einer objektiven Situation der Sünde – die nicht subjektiv schuldhaft ist oder es zumindest nicht völlig ist – in der Gnade Gottes leben kann, dass man lieben kann und dass man auch im Leben der Gnade und der Liebe wachsen kann, wenn man dazu die Hilfe der Kirche bekommt.“ (Amoris laetitia, Nr. 306)
Wohlgemerkt in einer Fußnote (!) präzisiert er dann:
„In gewissen Fällen könnte es auch die Hilfe der Sakramente sein. Deshalb »erinnere ich [die Priester] daran, dass der Beichtstuhl keine Folterkammer sein darf, sondern ein Ort der Barmherzigkeit des Herrn« (…) Gleichermaßen betone ich, dass die Eucharistie » nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen« ist.“ (Amoris laetita, Fußnote 351)
In „gewissen Fällen“ – man muss eben genau hinschauen und die einzelnen Menschen mit ihrem Leben in den Blick nehmen, um gerecht handeln zu können. Wenn hingegen ein gesatztes Recht als in sich ungerecht erweist, ist Widerstand nötig. Dann bleibt nichts übrig, als das Recht selbst zu ändern …
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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