Der 7. Oktober 2023 markiert einen Zivilisationsbruch. Die Sinnlosigkeit des grausamen Terrors ist ohne jeden Kontext. Das zu bekunden beeilten sich viele – um kurz darauf dann doch wieder ein „aber“ anzuführen, um Enthauptungen, Vergewaltigungen, Abschlachtungen, Schändungen und puren Vernichtungswillen „einzuordnen“. Der Mensch kann mit dem Sinnlosen nicht umgehen. Und so wird gedeutet, gefaselt und geplappert. Scheinbar bewährte Deutungsmuster aber sind letztlich nichts anderes als Vorurteile, vereinfachte Schablonen, in die die Wirklichkeit hineingepresst wird. So sitzen viele in intellektuellen Sackgassen, in denen man es sich gemütlich gemacht hat. Was glauben Sie denn?
Am Ende der gedanklichen Sackgasse stehen die immer gleichen Parolen auf der Mauer. Wahlweise sind dann die Araber schuld oder die Israelis – halt die anderen, die immer schuld sind. Wie fatal dieser Mangel an gedanklicher Weite ist, konnte man jüngst bei einem selbsternannten Fernsehphilosophen sehen, der sich das Vordenken ersparte und den engen Horizont der eigenen Sackgasse mit antisemitischen Stereotypen markierte, indem er in einem Podcast mit prächtiger Selbstverständlichkeit feststellte, orthodoxe Juden sei es aus religiösen Gründen verboten, zu arbeiten, „außer ein paar Dingen wie Diamanthandel und Finanzgeschäfte“ – ein Satz, der an Dummheit, Unkenntnis und Ignoranz kaum zu überbieten, dafür aber voller antisemitischer Vorurteile ist. Eilfertige Interpreten buhlten flugs darum, eine Lanze für den Kritisierten zu brechen und den offenkundig intellektuellen Aussetzer „einzuordnen“: Der sei auf keinen Fall ein Antisemit. Woher möchte man das wissen? – fragt der staunende Beobachter. In jedem Fall war die Aussage selbst unzweifelhaft antisemitisch. Als endlich das Nachdenken einsetzte, muss das wohl auch dem vordenkschwachen Meinungsstarken eingefallen sein. Der entschuldigte sich für sein Aussage. Reicht das schon?
Man stelle sich vor, ein Kreditnehmer tritt vor den Bankschalter und sagte: Ich entschuldige mich – jetzt muss es auch gut sein. Das Gelächter der Bankgestellten wird sicher sein. Man kann sich nicht selbst entschuldigen. Man kann jemanden um Entschuldigung bitten. Ob dieser Jemand die Entschuldigung annimmt, ist eine eigene Sache. Ein Philosoph sollte ja ein Freund exakter Wortwahl sein – darin besteht sein Beruf. Er hätte also bestenfalls sagen könne, dass er einen fatalen Fehler gemacht habe, dass es ihm Leid tue oder einen Aussetzer gehabt hätte. Das alles aber sagt er nicht. Er hat sich doch entschuldigt …
Worte wirken nicht, bloß weil man sie sagt. Es reicht in diesen Tage nicht, sein Bedauern auszudrücken oder sich solidarisch neben Juden zu stellen. Mittlerweile haben sich einige Moscheegemeinden auch in Wuppertal geäußert. Man habe nicht zu den Hamas-Demonstrationen aufgerufen, heißt es – aber hat man den Hamas-Terror damit auch verurteilt? Man habe die Distanz doch bekräftigt, wird gesagt, indem Vertreter der islamischen Verbände in NRW sich mit Vertretern der jüdischen Gemeinde getroffen hätten. Was man denn jetzt noch machen solle? Ist diese Frag ernst gemeint? Was ist daran so schwer, die unmenschlichen Untaten der Hamas selbst zu verurteilen, wie das viele andere auch tun. Wieso muss man das „nachholen“ und sich gleichzeitig beschweren, dass man um eine Positionierung gebeten wird? Kann man der Barbarei gegenüber tatsächlich gleichgültig sein?
Die WDR-Chefredakteurin Sonia Seymour Mikich hat es in der Jüdischen Allgemeinen auf den Punkt gebracht:
„Hamas hat die Hölle nach Israel gebracht UND das Schicksal der Entführten zerreißt das Herz UND Not und Tod der Menschen in GAZA berühren jeden anständigen Menschen UND Israel hat ein Existenzrecht UND für alle in der Region muss ein gerechter Frieden her. Ein ganz und gar unbeholfener Satz, der versucht, ohne ein ABER auszukommen.“
Die Weisen stammeln. Nichts ist mehr, wie es war. Die Tat der Hamas ist ohne jeden Kontext, hat aber einen neuen Kontext geschaffen. Wir müssen die intellektuellen Sackgassen, verlassen und neu umdenken. Nichts anderes meint der biblische Begriff der Metanoia: Umkehren und Umdenken. Wenn wir das Leben wählen, wie wird das in Zukunft für alle möglich sein?
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in der Westdeutschen Zeitung vom 3. November 2023.
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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