Dies Domini – Palmsonntag, Lesejahr B
An und für sich ist der Mensch von anpassungsfähigem Wesen. Er hätte sonst in längst vergangenen Zeiten kaum überleben können. Jäger und Sammler mussten den Herden hinterherziehen oder neue Gebiete suchen, deren Nahrungsangebot das Überleben sicherten, wenn Klimawechsel, Naturkatastrophen oder andere Gründe ihn dazu zwangen. Der frühe Mensch hat es aufgrund dieser Wesenseigenschaft der Flexibilität zu überleben. Das änderte sich, als er sesshaft wurde. Jetzt hatte er Haus und Grund, das nicht nur verteidigt werden musste. Auch die Flexibilität ging verloren. Weidegründe konnte man neue suchen. Bestellte Äcker und Schollen hingegen waren und sind immobil. Die nomadische Existenz muss stets offen sein für Neues; immobil Sesshafte hingegen beschwören gerne eine Hermeneutik der Kontinuität oder – etwas vorsichtiger – eine Hermeneutik der Reform in der Koninuität, die suggeriert es sei alles immer schon so gewesen, wie es ist und wie es weiter sein muss. Man kann das verstehen. Man baut halt nicht alles Tage ein neues Haus für sich und die seinen. Selbst kleine Häuser sind kleine Paläste. Merkwürdig aber wird es, wenn führende Vertreter eine Kirche, die sich seit Augustinus selbst gerne als wanderndes Volk Gottes definiert, denen, die als Späher und Pfadfinderinnen neue Wege suchen, das Wort Gottes in neuen Zeiten zu verkünden, in einer Weise von der Hermeneutik der Kontinuität reden, die die Wanderschuhe in Beton einzementiert.
Eine sesshaft gewordene Kirche ist an der Wahrung, bestenfalls der Vermehrung des Besitzstandes interessiert; Veränderung erscheint da eher als Gräuel. Die Erneuerung wird zwar gerne beschworen -aber nur so lange, wie Erneuerung als Rückkehr in das Altbewährte verstanden wird. Zeitenwenden und Epochenwechsel erscheinen da nicht als Chance, sondern als Gefahr. Die Gefahr erscheint umso größer, wenn sie mit Desillusionierungen verbunden sind. Genau das erleben die gegenwärtigen Zeitgenossen in Kirche und Gesellschaft. In der Gesellschaft zerplatzen die Seifenblasen einer globalen Friedensvision, an die man sich nach dem Zerfall des Ostblocks gewöhnt hatte. Kriege, Krisen und Konflikte bedrohen die eigene Gemütlichkeit. Deshalb möchte man sich am liebsten gar nicht einmischen, dann bleibt die Gefahr wohl schon weit weg. Die Kontinuität der Gemütlichkeit möge bitte nicht in Frage gestellt werden. Kriege sollen dann eingefroren, Krisen eingetuppert und Konflikte luftdicht verpackt werden. Zweifelsohne ist das nur eine Scheinlösung, denn was eingefroren wurde, wird auch wird irgendwann auch wieder auftauen. Was eingetuppert und luftdicht verpackt wurde, wird irgendwann um so mehr stinken, wenn die Dichtigkeit der Verpackung an Stabilität verliert. Jetzt aber kann man die Kontinuität selbstgemachter Illusionen bewahren, statt sich der Herausforderung aufrecht zu stellen.
Das gilt auch für die Kirche und ihre Krisen und Konflikte. Das Beschwören einer veränderungsunwilligen Kontinuität verfängt hier nur bei immobil Sesshafte, für die jede Veränderung eine Gefährdung des eigenen Besitzstandes bedeutet. Dabei zieht das Volk Gottes weiter, bisweilen sogar aus der Kirche fort. Die Illusion einer frommen und gehorsamen Herde zerplatzt in diesen Zeiten wie eine Seifenblasen, sind die Schafe doch längst zu erwachsenen Menschen mutiert, die aufrecht und mündig ihre Lebenswege gestalten.
In der mit dem Palmsonntag beginnenden Karwoche vergegenwärtigt die Christenheit wieder das zentrale Ereignis des Glaubens: Das Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi. Kreuzestod und Auferstehung sind der Urgrund des christlichen Glaubens, von dem Paulus sagt:
„Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer, leer auch euer Glaube.“ (1 Kor 15,14)
Im Lesejahr B wird am Palmsonntag die Markuspassion verkündet. Markus ist für seine prägnante, bisweilen sogar knappe Erzählweise bekannt. Umso mehr fallen vermeintlich rätselhafte Teile auf, die Markus in seine Erzählung einwebt. So etwa der kurze Bericht von dem Jüngling, der seiner Kleider entledigt nach der Verhaftung Jesu nackt das Weite sucht:
„Ein junger Mann aber, der nur mit einem leinenen Tuch bekleidet war, wollte ihm nachfolgen. Da packten sie ihn; er aber ließ das Tuch fallen und lief nackt davon.“ (Mk 14,51f)
Der junge Mann – im griechischen Urtext wird er als νεανίσκος (gesprochen: neanískos) bezeichnet – scheint zur Anhängerschaft Jesu gehört zu haben, was sonst hätte er um diese Uhrzeit an diesem Ort zu suchen. Einen Vers zuvor jedenfalls beschreibt der Text die Reaktion der anderen Jünger Jesu auf die Verhaftung:
„Da verließen ihn alle und flohen.“ (Mk 14,50)
Der junge Mann aber will ihm noch nachfolgen. Er hält an seiner Hoffnung fest – eine Hoffnung, die wohl nicht nur spirituell war. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wenigsten ein Teil der Jüngerschaft Jesu dessen Verkündigung vom nahen Reich Gottes politisch (miss-)verstanden hat. Wohl deshalb antworten sie auf die Verhaftung Jesu, indem sie zum Schwert greifen:
„Einer von denen, die dabeistanden, zog das Schwert, schlug auf den Diener des Hohepriesters ein und hieb ihm das Ohr ab.“ (Mk 14,47)
Man ist kampfbereit. Die drohende Verhaftung Jesu erscheint als das Fanal, auf das alle gewartet haben. Wenn nicht jetzt, wann dann! Wann sonst wird Jesus endlich aufrufen, das Reich Gottes zu errichten. Der aber reagiert ganz anders:
„Wie gegen einen Räuber seid ihr mit Schwertern und Knüppeln ausgezogen, um mich festzunehmen. Tag für Tag war ich bei euch im Tempel und lehrte und ihr habt mich nicht verhaftet; aber so mussten die Schriften erfüllt werden.“ (Mk 14,48f)
Die Schriften müssen erfüllt werden! Kein Aufruf zum Aufstand. Alles gerät in Bewegung. Alles rennt, rettet, flüchtet … bis auf einen, den Jüngling. Der will noch festhalten am Bewährten, an jenem Jesus, an den er sich gewöhnt hat. Da packen sie ihn und er muss alles fallen lassen. Er häutet sich – nein: er wird gehäutet. Nackt rennt er davon …
Jüngling – das Wort νεανίσκος (neanískos) findet sich im Markusevangelium nur zweimal. Neben der vorliegenden Stelle wird es wieder im markinischen Auferstehungsbericht auftauchen. Dort finden die Frauen in der Frühe des ersten Tages der Woche ein Grab vor, das zwar den Leichnam Jesu nicht mehr birgt, aber doch nicht leer ist:
„Sie gingen in das Grab hinein und sahen auf der rechten Seite einen jungen Mann sitzen, der mit einem weißen Gewand bekleidet war; da erschraken sie sehr. Er aber sagte zu ihnen: Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus von Nazaret, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden; er ist nicht hier. Seht, da ist die Stelle, wohin man ihn gelegt hat. Nun aber geht und sagt seinen Jüngern und dem Petrus: Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat.“ (Mk 16,5-7)
Ist es ein Zufall, dass der junge Mann im Garten Gethsemane sein leinenes Tuch fallen lassen muss, der junge Mann im Grab nun aber mit einem weißen Gewand bekleidet ist? Es erscheint fast eine merkwürdige Kontinuität zwischen dem flüchtenden jungen Mann im Garten und dem frisch gewandeten jungen Mann im Grab zu bestehen. Markus beschreibt die Identität der beiden jungen Männer nicht näher. Er sagt auch nicht eindeutig, dass es sich um dieselbe Figur handelt. Aber es ist schon auffällig, dass der Begriff νεανίσκος hier wie dort verwendet und die textile Ent- bzw. Bekleidung einer Erwähnung wert erscheint. So insinuiert Markus eine Kontiunität zwischen diesen beiden Figuren – und das ist eine Kontinuität der Häutung, der Veränderung. Wo der Jüngling im Garten noch den Verlust des Altbewährten durch nackte Flucht erkennen muss, erkennt der Jüngling im Grab einen neue Perspektive:
„Er ist auferstanden; er ist nicht hier. Seht, da ist die Stelle, wohin man ihn gelegt hat. Nun aber geht und sagt seinen Jüngern und dem Petrus: Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat.“ (Mk 16,6b-7)
Geht! – Der Auferstandene ist längt vorausgegangen. Wer jetzt noch bleibt, wo er ist, wir ihn verpassen! Eine Kirche, die sich nicht ständig häutet, wird verkrusten. Es steht zu befürchten, dass die Sklerose weiter fortgeschritten ist, als es viele, die Verantwortung zu tragen vorgeben, wahrhaben wollen. Wer die Botschaft des leeren Grabes, das gar nicht so leer erscheint, versteht, wird gehen, wandern, pilgern. Geht also endlich wieder!
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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