Wissen Sie, wer Sie sind? Das ist jedenfalls die Forderung des wiedergewählten CDU-Parteichefs Friedrich Merz. Auf dem eben zu Ende gegangenen CDU-Parteitag forderte er mit gewohnt klarkantigem Ton: „Wir müssen wissen, wer wir sind, wo wir stehen, was wir wollen.“
Bei genauerem Hinschauen schillern die schönen Worte wie Seifenblasen. Wer wissen muss, wer er ist, wo sie steht und was wir wollen … weiß es eben noch nicht. Die Worte sind wie ein ungedeckter Scheck. Das gilt auch für die viel beschworene „Leitkultur“. Auch dieses Wort changiert in vielen Farben. Wer aber immer versucht, diese Leitkultur zu definieren, wird sich zwischen Leberkäs und Labskaus verlieren. Ist hier Brauchtumspflege gemeint (also Bosseln oder Platteln), das Grundgesetz und die dort definierten Grundwerte und -rechte oder die viel beschworene christliche Tradition des Abendlandes (die jüdische hat man ja erst nach der Katastrophe der Shoa entdeckt)? Die „Leitkultur“ bleibt eine Worthülse, die vielsagend nichts sagt.
Nun hat der Begriff der „Leitkultur“ Eingang in das Grundsatzprogramm der CDU gefunden – jener Partei, die immer noch das „christlich“ im Namen führt. Es liegt also nahe, dass das „Christliche“ irgendwie zu dieser Leitkultur gehört. Kann man das aber irgendwo fassen? Man kann! Auch wenn die Bergpredigt Jesu im Matthäusevangelium kein politisches Programm darstellt, das man „Eins zu Eins“ umsetzen kann, so stellt sie doch einen Kompass dar, an dem sich eine „christlich orientierte Leitkultur“ ausrichten müsste. Ohne näher ins Detail zu gehen, beinhaltet die Bergpredigt mit der sogenannten „Goldenen Regel“ eine eigene Zusammenfassung:
„Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten.“ (Mt 7,12)
Diese Goldene Regel findet sich so oder so ähnlich in vielen Kulturen und Religionen. Im Judentum findet man sie im Talmud, im Hinduismus in der Mahabharata und im Buddhismus in der Samyutta Nikaya. Im Islam lautet ein Hadith, ein mündlich überlieferter Ausspruch Mohammeds:
„Keiner von Euch ist ein Gläubiger, solange er nicht seinem Bruder wünscht, was er sich selber wünscht.“
Zweifelsohne ist die christliche und die jüdische Version universeller gefasst als die islamische – aber gerade das schließt auch eine exklusive Interpretation einer christlich geprägten Leitkultur aus! Wer eine „Leitkultur“ fordert, darf daher gerade nicht exklusiv denken.
Die Delegierten des CDU-Parteitages scheinen die Diffusion des Begriffes „Leitkultur“ selbst zu ahnen. Neben dem Bekenntnis zum Grundgesetz fordern sie deshalb das „gemeinsame Bewusstsein von Heimat und Zugehörigkeit“. Aber ist genau das nicht schon in der Verständigung und Identitätsfindung zwischen Menschen aus Ost- und Westdeutschland eine große Herausforderung? Gibt es wirklich einen Konsens zwischen dem Heimatbewusstsein von Bayern und Holsteinern. Und was verbirgt sich hinter den Traditionen und Bräuchen, die im CDU-Parteiprogramm stehen. Deutschland ist in sich doch schon so divers, dass es keinen nationalen Brauchtumskonsens gibt – Fronleichnam ist katholisch, der Buß- und Bettag (mangels eines eigenen Feiertages bei vielen kaum im Bewusstsein) evangelisch und das christliche Fest „Christi Himmelfahrt“ für viele längst mit dem Brauch des bierschwangeren Bollerwagenkutschierens verbunden. Welcher Konsens besteht denn da? Was glauben Sie denn?
Nein, der Begriff der Leitkultur funktioniert noch nicht. Bevor man ihn zum zentralen Kriterium erhebt, müsste man einen weitgehenden Konsens über seinen Inhalt finden. Noch verbindet er die Menschen nicht. Es wäre gut gewesen, wenn die Delegierten einen wichtigen Rat aus dem Buch Jesus Sirach beherzigt hätten:
„Wenn du Einsicht hast, antworte dem Nächsten, wenn aber nicht, sei deine Hand auf deinem Mund!“ (Sir 5,12)
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in der Westdeutschen Zeitung vom 10. Mai 2024.
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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