Kalendersprüche gehören unter den literarischen Schöpfungen, die die Menschheit hervorgebracht hat, zu den gefährlicheren Gattungen. Ihre in ihrer simplen Bescheidenheit bestechende Logik wird mit Weisheit verwechselt, so dass nur selten jemand danach fragt, ob überhaupt stimmt, was da behauptet wird. In ihrer naiven Einfachheit sind sie freilich unzerstörbar. Sie werden unhinterfragt weitererzählt und bringen nicht selten ganze Denksysteme hervor, die zwar für wahr erachtet werden, obschon sie auf sehr dünnem Eis errichtet sind. Zu den viel verwendeten Sentenzen der Kalenderspruchgattung gehört zweifellos der Satz:
„Worte schaffen Wirklichkeit!“
Er bildet die Basis für die Bemühungen um eine gerechtere Sprache, führt aber bisweilen zu verbalen Eiertänzen, die in ihrer bemühten Ernsthaftigkeit die ihr zugrundliegende semantische Narretei ad absurdum führen.
Letzteres kann man im Bemühen beobachten, Menschen mit Behinderung, die man auch mal „Menschen mit Benachteiligung“ oder „Menschen mit Handicap“ nannte, obschon sich die wenigsten Golfspieler der eigentlich gemeinten Gruppe zurechnen würden, zu bezeichnen. Einfach von Behinderten zu sprechen, erscheint geradezu obszön. Stattdessen schuf man Wortungetüme, die die Betreffenden immer mehr zu Objekten statt zu Subjekten machen. Und all das, weil man denkt, Worte würden Wirklichkeiten schaffen – allein die Behinderung bleibt, egal wie man sie nun nennt. Im Gegenteil: Die Verschleierung erschwert eine positive Beziehung und Teilhabe eher, als sie diese fördert. Wer einen beleibten Menschen als „Dicker“ bezeichnet, könnte sich als echter Freund erweisen, während die Rede von einem „Menschen mit Adipositas“ dieselbe Person mit einer Krankheit behaftet. Das Problem liegt in der Bedeutung, die wir Worten beimessen, denn dass Worte Wirklichkeit schaffen. Was glauben Sie denn?
Nun wird oft entgegnet, dass es in der Schrift doch heißt:
„Alles ist durch das Wort geworden“ (Joh 1,3).
Dabei wird allerdings übersehen, dass es von jenem Wort zwei Verse vorher heißt:
„Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott.“ (Joh 1,1).
In der Tat schafft Gott durch sein Wort (im griechischen heißt des „Logos“) Wirklichkeit. Er ist halt Gott! Der Mensch als Ebenbild Gottes ist zwar sprachbegabt. Seine Sprachfähigkeit ist aber dazu gedacht, das Geschaffene nachträglich zu benennen und so zu ordnen. So heißt es im sogenannten zweiten Schöpfungsbericht:
„Gott, der HERR, formte aus dem Erdboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zu, um zu sehen, wie er sie benennen würde. Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte sein Name sein. Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes.“ (Gen 2,19f)
Der Mensch darf mit Worten nur spielen, nur Gott kann Wirklichkeiten wörtlich schaffen. Das Wortspiel der Menschen aber ist von Vorerfahrungen geprägt, die er selbst macht, aber nicht bewirkt. Ältere Generationen etwa werden bei dem Wort „Ärzteschaft“ sicher an ein eher männlich dominiertes Kollegium denken, weil das ihrer früehen Lebenserfahrung entspricht; jüngere Generationen hingegen werden sicher eine erheblich diversere Belegschaft imaginieren, weil genau das die Wirklichkeit von heute ist. Sie entsteht nicht durch das Wort. Die Bedeutung des Wortes wird durch die Erfahrung geprägt.
Statt sich also in immer neuen semantischen Diskussionen zu verzetteln, die immer neue Wortungetüme, Sonderzeichen und phonetische Neuschöpfungen evozieren, die trotz allen guten Wollens eben keine neuen Wirklichkeiten hervorbringen, wäre es hilfreicher, die tatsächliche Realität sicht- und erfahrbarer zu machen. Es sei denn, man würde sich in Hogwarts einschreiben. Die Zauberlehrlinge dort lernen tatsächlich, durch Worte Wirklichkeiten hervorzubringen. Einfach magisch, nicht wahr? Aber eben auch reine Fiktion!
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in der Westdeutschen Zeitung vom 23. August 2024.
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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