Dies Domini – 28. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr B
Das Leben ist wie ein Fluss. Wenn es gemächlich dahin fließt, kann man sich den Reizen der Umgebung hingeben. Kommen aber Stromschnellen, muss man höllisch aufpassen. Drohen gar Wasserfälle, Untiefen oder Hochwasser, ist man für jeden Halt dankbar, der Orientierung bietet. Gerade in unruhigen Zeiten ist Führung notwendig – auch wenn niemand sie bestellt hat.
Viel ist in diesen Zeiten von Macht die Rede. Kaum aber jemand stellt die Frage, woher die Macht eigentlich kommt. Macht ist fragil. Deshalb muss sie entweder mit Gewalt bewahrt werden; oder sie beruht auf Vertrauen. Zweifelsohne finden sich in der Gegenwart nur allzu viele Beispiele für gewalttätige Machtsicherungen, die sich keinen Deut um Leib und Leben der Menschen scheren. Das ist tatsächlich keine wirklich Führung, sondern ein diktatorischer Narzissmus. Führung hingegen hat das Leben der Anvertrauten im Blick. Ein Machthaber, der führt, weiß, dass er die Macht immer nur geliehen bekommt. Er schaut nicht auf sich, sondern auf die Menschen, die er führt. Seine Macht ist die eines Pfadfinders, der den Weg zu jenen Orten sucht, an denen Leben möglich ist. Macht ist hier kein Selbstzweck, sondern die Ermöglichung des Machens. Ein weiser Machthaber weiß deshalb nicht nur um seine Verantwortung, die nicht selten zur Last wird. Er wird sich auch immer selbst begrenzen. Und trotzdem muss er führen.
Die Last des Führenmüssens wird dem weisen Machthaber vor allem dann bewusst, wenn das Leben der Anvertrauten in Krisen gerät. Mose etwa muss das erfahren, als trotz der vielen Großtaten, die Gott an seinem Volk getan hat, immer wieder der Zweifel aufkommt. Immer wieder will das Volk lieber in die Sklaverei Ägyptens zurückkehren, als die Herausforderung der Erwählung anzunehmen. Die physische Not droht immer die hehren Ideale und Ziele zu untergraben. So ergeht es auch Mose, der sich in einer solchen Krise klagend an Gott wendet:
„Woher soll ich für dieses ganze Volk Fleisch nehmen? Sie weinen vor mir und sagen zu mir: Gib uns Fleisch zu essen! Ich kann dieses ganze Volk nicht allein tragen, es ist mir zu schwer. Wenn du mich so behandelst, dann bring mich lieber um. Wenn ich Gnade in deinen Augen gefunden habe, werde ich mein Unheil nicht mehr schauen.“ (Num 11,13-15)
Gott greift nicht einfach ein, sondern hilft Mose lediglich, seinen Führungsstil neu auszurichten:
„Da sprach der HERR zu Mose: Versammle mir siebzig von den Ältesten Israels, die du kennst, weil sie die Ältesten des Volkes und seine Listenführer sind; bring sie zum Offenbarungszelt! Dort sollen sie mit dir zusammen hintreten. Dann komme ich herab und rede dort mit dir. Ich nehme etwas von dem Geist, der auf dir ruht, und lege ihn auf sie. So können sie mit dir zusammen an der Last des Volkes tragen und du musst sie nicht mehr allein tragen. Zum Volk aber sollst du sagen: Heiligt euch für morgen, dann werdet ihr Fleisch zu essen haben. Denn ihr habt dem HERRN die Ohren vollgeweint und gesagt: Wenn uns doch jemand Fleisch zu essen gäbe! In Ägypten ging es uns gut. Der HERR wird euch Fleisch geben und ihr werdet essen. Nicht nur einen Tag werdet ihr es essen, nicht zwei Tage, nicht fünf Tage, nicht zehn Tage und nicht zwanzig Tage, sondern einen Monat lang, bis es euch zur Nase herauskommt und ihr euch davor ekelt. Denn ihr habt den HERRN, der mitten unter euch ist, verworfen und habt vor ihm geweint und gesagt: Warum sind wir aus Ägypten weggezogen?“ (Num 11,16-20)
Die Macht der Führung heißt gerade nicht, alles allein an sich zu ziehen. Für eine auf Vertrauen ruhende Führung ist es notwendig, die die geführt werden sollen, angemessen zu beteiligen. Mose lernt hier, sich beraten zu lassen, zu delegieren. Der weise Mächtige bildet sich nichts auf seine Macht ein. Er weiß, dass es an ihm ist, das Machen zu ermöglichen – aber eben nicht um seiner selbst willen.
Von daher kann es kaum verwundern, dass das Gebet eines der bekanntesten Mächtigen der Geschichte Israels, nicht um Machterhalt, Prunkt und Pracht bittet. Vor dem Herrn stehend bittet König Salomon:
„Verleih daher deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht! Wer könnte sonst dieses mächtige Volk regieren?“ (1 Kön 3,9)
Salomon ist klar, dass das Volk jederzeit die Macht hätte, ihn als König hinwegzufegen. Deshalb ist trotz all seiner Pracht das Volk mächtig. Seine Macht beruht darauf, dass das Volk ihm und seiner Führung vertraut. Damit dieses Vertrauen gerechtfertigt ist, muss er weise regieren. Deshalb bittet er um ein hörendes Herz, um Gut und Böse zu unterscheiden – jene Eigenschaft, die der Mensch im Garten Eden erworben hat und die ihn als Gottes Ebenbild ausweist.
Es kann daher kaum verwundern, wenn in der ersten Lesung vom 28. Sonntag im Jahreskreis im Lesejahr B, genau diese Weisheit in den Mittelpunkt gerückt wird:
„Ich betete und es wurde mir Klugheit gegeben; ich flehte und der Geist der Weisheit kam zu mir. Ich zog sie Zeptern und Thronen vor, Reichtum achtete ich für nichts im Vergleich mit ihr. Einen unschätzbaren Edelstein stellte ich ihr nicht gleich; denn alles Gold erscheint neben ihr wie ein wenig Sand und Silber gilt ihr gegenüber so viel wie Lehm. Mehr als Gesundheit und Schönheit liebte ich sie und zog ihren Besitz dem Lichte vor; denn niemals erlischt der Glanz, der von ihr ausstrahlt. Zugleich mit ihr kam alles Gute zu mir, unzählbare Reichtümer waren in ihren Händen.“ (Weih 7,7-11)
Zur Weisheit gehört dann aber auch, das bisweilen Notwendige zu tun, auch wenn die Geführten das im ersten Moment nicht einsehen. Das zeigt sich im Evangelium vom 28. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B, wenn ein Mann auf Jesus zukommt und ihn fragt, was er tun muss, um das ewige Leben zu erben. Er hat alle Gebote gehalten – und trotzdem fehlt etwas:
„Jesus sieht ihn an, umarmte ihn und sagte: Eines fehlt dir noch: Geh, verkaufe, was du hast, gib es den Armen und du wirst einen Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach‘“ (Mk 10,21)
Hier wird deutlich, dass Macht eben mit „Machen“ zu tun hat. Viele Worte alleine genügen nicht, die Taten zählen. Der Mann mag sogar alles richtig gemacht haben – aber er hat es für sich, nicht für andere getan. Er will einfach das ewige Leben erlangen. Das Schicksal der anderen aber liegt ihm weniger am Herzen. Das ist das, was fehlt. Der gierige Mächtige schaut nur auf sich; der weise Mächtige ermöglicht das Leben anderer. Vermögen vermag nur etwas, wenn es dem Leben der vielen dient.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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