Ein kleiner religionsphilosophischer Essay über das Wunder
Keine Religion ohne Wunder! Gleich welcher Glaubensrichtung man anhängt, das Wunderbare ist wesentlicher Bestandteil religiöser Traditionen. Vielleicht liegt der Grund in der Sehnsucht nach Vergewisserung. Das Unerklärliche, eigentlich Unmögliche wird als sicht- und erfahrbares Eingreifen der jenseitigen Macht aufgefasst. Sie greift in die irdische Wirklichkeit ein und handelt scheinbar auf eine Weise, die die Naturgesetze außer Kraft setzt. Für viele sind Wunder daher ein Beweis für die Existenz ihres Gottes.
Das ist auch im Christentum nicht anders. Allein das Neue Testament schreibt Jesus 20 Heilungs- bzw. Austreibungswunder sowie drei Auferweckungswunder zu. Aber auch in der Neuzeit bleibt der Wunderglaube aktiv. Heilungswunder in Lourdes, Marienerscheinungen in Banneux oder Medjugorje, weinende Statuen – all dies sorgt auch in unserer aufgeklärten Zeit immer wieder für Erstaunen. Sind all diese Dinge nicht Beweis genug für die Existenz und Wirkmächtigkeit des Gottes Jesu Christi?
Der faktische Zweifel nicht weniger Menschen, die sich trotz dieser scheinbaren Beweise weigern, die Existenz Gottes anzuerkennen, macht allein schon die Allgemeingültigkeit der Wunderbeweise zunichte. Und wer das Neue Testament aufmerksam liest, wird entdecken, dass selbst Jesus der Beweiskraft der Wunder äußerst skeptisch gegenüber steht. Jesus selbst ist wunderkritisch. Er tadelt seine Anhänger: Nur wer glaubt, ohne zu sehen ist selig. Er weigert sich, Wunder zu Demonstrationszwecken zu wirken. The show must not go on.
Wenn er Wunder wirkt, dann steht im Hintergrund immer der Glaube dessen, dem das Wunder gilt. „Dein Glaube hat dir geholfen“ – das ist die eigentliche Begründung Jesu für das Wunder. Es ist der Mensch und seine Einstellung zu Welt und Gott, die ihm eine neue Perspektive eröffnet. Damit stellt sich aber doch die Frage, was eigentlich ein Wunder ist.
Einige Merkmale sind schon genannt: Wunder sind zuerst immer unerklärlich. Die göttliche Macht scheint ohne Rücksicht auf die Naturgesetze zu wirken. Das aber ist – zumindest aus der Sicht der christlichen Theologie – ein Widerspruch in sich. Die Welt und ihre Gesetze stammen schließlich von Gott selbst und wurden von ihm durch den Schöpfungsakt in Kraft gesetzt. Durch ein wunderbares Außer-Kraft-Setzen der Naturgesetze würde der Schöpfer sein eigenes Werk in Frage stellen. Das ist paradox.
Es besteht kein Zweifel, dass ein Gott, der diese Welt erschaffen hat, in der Lage ist, neue schöpferische Akte zu setzen, also wunderbar in das Weltgeschehen einzugreifen. Er wäre kein Gott, wenn er das nicht könnte. Das Paradox des Wunders lässt sich daher nur auflösen, wenn man in Rechnung stellt, dass das Wunder kein einmaliger Akt bleibt. Als schöpferischer Akt wird es Teil der Schöpfung. Es ist damit prinzipiell wiederhol- und erklärbar. Es ist also gerade kein Wunder, dass man Wunder auch naturgesetzlich erklären kann.
Wunder gibt es deshalb immer wieder. Aber man weiß nie, wo und wann sie sich ereignen. Das eigentlich Wunderbare am Wunder ist daher nicht, dass es passiert, sondern dass es zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort geschieht. Dabei sind Wunder grundsätzlich deuteoffen. Der Eine erkennt einen Zufall, während der Gläubige Gott selbst am Werk sieht.
Damit schließt sich der Kreis. Wunder können den Glauben nicht beweisen. Sie sind sogar grund-sätzlich innerweltlich erklärbar. Der Glaube braucht keine Wunder. Gott auch nicht – außer, dass er uns, wenn wir uns wieder einmal verrannt haben, einen neuen Weg eröffnen will. Um diesen Weg gehen zu können, muss man ihn erst einmal entdecken. Vielleicht liegt hierin der Grund für die Erklärung Jesu: „Dein Glaube hat dir geholfen?“ Erst so konnte das Wunder wirksam werden. Wie viele Wunder sind wohl unentdeckt geblieben?
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlichung 2004 im Wuppertaler Szenemagazin „45rpm“
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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