Dies Domini – 27. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr B
Idiotie wird zum prägenden Merkmal der Gegenwart. Dabei weist das Wort „Idiot“ eine bemerkenswerte Doppeldeutigkeit auf. Der griechischen Herkunft gemäß bezeichnet der ἰδιώτης (gesprochen: idiótes) nichts anderes als die Privatperson. Das Wort leitet sich von ἴδιος (gesprochen: ídios/eigen) ab. Der Idiotes kümmert sich halt um das ihm eigene, das Private. Der Idiotes lehnte es in der antiken Gesellschaft ab, öffentliche Ämter und so auch soziale Verantwortung wahrzunehmen. Er zog sich ins Private zurück. Vielleicht leitet sich gerade von hierher aber auch die andere, in der Alltagssprache vertraute Bedeutung ab: Der Idiot ist der dumm-tumbe Mensch, der nicht in der Lage ist, komplexe Zusammenhänge zu durchschauen und deshalb an der Wirklichkeit scheitert.
Der Idiot ist also im Innersten ein Soziopath. Er kreist in seiner Eitelkeit um sich selbst. Er ist der Mittelpunkt seiner Welt; einer Welt, die es nur für ihn gibt. In einer gewissen Weise verklärt er die ihm eigene Autonomie. Er ist sich selbst Gesetz. Die Welt kümmert ihn nur dann, wenn er sie für seine Zwecke gebrauchen kann. Wenn es brenzlig wird, zieht er sich ins Private zurück. Und ihm Privaten gilt Meinungsfreiheit, vor allem die Freiheit seiner eigenen Meinung. Ob und wie diese Meinung geäußert wird, ist allein seine Sache. Er ist ja die Sonne in seinem kleine System. Im Spiegelsaal seiner überschaubaren Wirklichkeit ist er allein König, ein absoluter Herrscher, den die Welt nicht wirklich interessiert.
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Dies Domini – Vierter Fastensonntag, Lesejahr B
Der digitale Stammtisch der sozialen Netzwerke ist nicht der beste Ort, um das Innerste der eigenen Seele zu offenbaren. Die Vertrautheit der kleinen Stammtischwelt barg früher immerhin die Chance, dass sich manche nebulöse Halbwahrheit und vorschnelle Parole im bierseligen Dunst verflüchtigte und das Tageslicht erst gar nicht erblickte. Der Raum war oft so klein wie die Gedanken, die darin geäußert wurden und sie blieben dort, schadeten meistens niemandem und hatten im besten Fall einen gewissen Unterhaltungswert, wenn sich die Stammtischbrüder und -schwestern in ihren eigenen Vorurteilen bestätigt selbstgenügsam auf die Schenkel klopfen konnten. Auch eine Gemeinschaft kleiner Geister stärkt das eigene Gemüt. Und im Alltag am nächsten Morgen konnte man unbelastet und höflich ans Tagewerk gehen. Die Spielregeln waren klar, die Münder wie die Herzen offen und die Gedanken frei wie sonst nur selten im Leben. Selbst der krudeste Blödsinn und das vernunftbefreite Vorurteil konnten hier straflos geäußert werden. Die Stammtische der Vergangenheit säuberten die Seelen, sie waren eine Katharsis der Gesellschaft, die so ihren Seelendreck geschützt entsorgen konnte. Der alte Stammtisch war ein Schutzbezirk, der die, die sich um ihn versammelten bisweilen auch vor sich selbst schützte.
Die Welt hat sich weitergedreht, Wissen und Technik sind fortgeschritten – nur der Mensch ist geblieben, was er ist: Ein Wesen voller Vorbehalte und Ängste, die ihn umtreiben und antreiben, die ihm die Ruhe rauben, weil das Leben das ist, was es ist: unsicher. Die Gefahren lauern überall, und vor allem das Fremde ist gefährlich. Unstet treibt es ihn durch die Welt. Sein Innerstes drängt ihn. Allein ihm fehlt ein Ziel, denn die alte Stammtischrunde gibt es nicht mehr. Die rituelle Katharsis des großen Jammerns und Zeterns, der gegenseitigen Selbstvergewisserung und -bestätigung bleibt aus. Dem eichentischernen Schutz beraubt, irren viele nun unbehaust und angstbesetzt durch die Welt. Was raus muss, muss aber raus – sonst zerreißt es den Menschen. Und so findet so mancher Erlösung in den Discus-Foren, Kommentarspalten und Social-Media-Postings der digitalen Welt.
Freilich hat das Internet wenig gemein mit der Vertrautheit der Eckkneipe. Es ist kein geschützter Raum, es ist ein Marktplatz, eine Agora, auf der man seine Botschaften hinausposaunt. Wie in Marmor gemeißelt bleiben sie nun in der Welt und wird wie digitaler Fliegendreck noch in Generationen Zeugnis von einer Diskussionskultur ablegen, in der das Reden das Hören besiegte. Hatern, Trollen und anderen Agitatoren geht es dabei wohl weniger um Sinn, Verstand und Wahrheit. Es werden meist auch keine Argumente benannt. Die Emotion siegt über die Vernunft. Die innere Zerrissenheit braucht ein Ventil. In Ermangelung eines echten Gegenübers, das als Faktum in sich bereits widerständig ist, geht die Aggression ins Leere. Es fehlt die Grenze. Die Katharsis bleibt aus – und so steigert sich manche hashtag-stimulierte Hysterie zu einem Shitstorm im Second Life, die den armen Tropf im First Life, dem wahren Leben nicht nur hilflos und einsam zurücklässt. Weil er sich außerdem auf dem virtuellen Marktplatz echauffiert hat, haben auch alle mitbekommen, wie er denkt. Die Gedanken sind heutzutage nicht mehr frei, sie sind nackt – mit unabsehbaren Konsequenzen. Oh Mensch, würdest du doch wieder dichten und denken, statt in der Timeline des Second Screen eine Welt zu kommentieren, die du doch gar nicht erleben und verstehen kannst, weil du zwischen dich und sie irgendwas mit Medien geschoben hast. Zur Aufrichtigkeit warst du gerufen, der jetzt mit technikinduziertem Nackenschmerz den Kotau vor einem Artefakt des sogenannten Fortschritts macht.
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Dies Domini – Fest Kreuzerhöhung
Wissend geworden, nicht unbedingt weise – so versucht der moderne Mensch seines Lebens Herr zu werden. Weil Wissen Macht ist, versucht er Wissen zu hamstern. Sein Prinzip ist das sola scientia – allein das Wissen, das, was ihm Augen, Mund und Hände, Nase und Ohren vermitteln. Der Reiz ist es, der zählt. Und der Reiz wird zur Wirklichkeit erklärt. Wo der Weise mit Sokrates wusste, dass er nichts weiß, wird jetzt der Sinnenreiz zum alleinigen Erkenntnisgrund erhoben. Was sich dem Reiz-Reaktionsschema entzieht, wird einfach als „Nicht erkennbar“ deklariert. Der dem Reiz erliegende Mensch sonnt sich dann im Licht einer vermeintlichen Vernunft, die die Sehnsucht nicht mehr kennt, wirklich weise zu werden. Wäre der wissende Mensch wirklich weise, er würde nicht vorschnell urteilen. Die Weisheit kennt den Zweifel. Die Weisheit braucht den Zweifel, weil er es ist, der sie nicht ruhen lässt. Es ist ja gerade der Zweifel, der fragt, ob die Sinne sich nicht täuschen lassen; ob das was scheint, auch ist. Der Zweifel weiß um die Notwendigkeit der Deutung des Reizes, der Kritik, der Reflexion. Der Zweifel, der zur Weisheit führt, weiß deshalb, dass die Wirklichkeit nicht einfach beschreibbar ist. Zweifel und Weisheit sind die Lehrmeister der Mythen und Metaphern, der Symbole und Seme, dieser Zeichen der Sprache, die doch selbst nicht das Bezeichnete sind, sondern es lediglich bedeuten. Und Bedeutung erhält nur das, was den Menschen berührt. Der moderne Mensch mag so viel wissen, wie keine Menschheit vor ihm. Aber die Evolution vom homo sapiens, dem weisen Menschen, zum homo sciens, dem wissenden Menschen, führt in ein existentielles Dilemma: weil der wissende Mensch nur dem Reiz der Sinne vertraut, kann er nicht mehr an eine Heimat glauben, die sich dem äußeren Schein entzieht. Er vermag nicht mehr die Zeichen zu deuten, die ihn, als er noch weise war, erkennen ließen, dass der Reiz nicht alles ist, dass hinter dem Sichtbaren mehr ist, dass ein Urgrund ihn trägt. Und so schwebt der wissende Mensch auf einer kleinen, unscheinbaren, ja banalen blauen Kugel durch die Dunkelheit eines Himmels, den er längst verloren hat, weil er mit Teleskopen sucht, was er doch nicht finden kann: den Ursprung allen Seins, die Singularität, die Einheit, die er mit wissenschaftlicher Exaktheit seziert und in ihre Einzelteile zerlegt hat – unfähig, den Sinn zu erkennen.
Ach, Wissender, wann fängst du an, zu zweifeln? Denn es ist der Zweifel, die Selbstinfragestellung, die den Beginn der Erkenntnis markiert. Dem cartesianischen
Cogito, ergo sum – ich denke, also bin ich.
geht immer noch das
Dubito, ergo cogito – ich zweifle, also denke ich.
voraus.
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